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Im Gespräch

„Nur die empathische Hinwendung zum Einzelfall hilft“

In „Stumme Schreie“ thematisiert der Psychiater Dr. Martin Flesch die Facetten seelischen Leidens vor, während und nach der Flucht

Würzburg (POW) „Stumme Schreie“ heißt das neue Buch von Dr. Martin Flesch, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Forensische Psychiatrie in eigener Gutachterpraxis. Darin beschreibt er die seelischen Leiden, die durch Migration entstehen. Im folgenden Interview erzählt er, was ihn zum Verfassen des Buchs motiviert hat und wo er die besonderen Herausforderungen für Kirche und Gesellschaft im Umgang mit Geflüchteten sieht.

POW: Herr Dr. Flesch, was hat Sie auf die Idee gebracht, ein Buch über die seelischen Nöte von Geflüchteten zu verfassen?

Dr. Martin Flesch: Auf die Idee gebracht haben mich die „Stummen Schreie" der Geflüchteten, somit auch der Titel meines Buches. Ich bot ab dem Jahr 2014 – nach einer Besichtigung der Asylunterkunft in Würzburg – zunächst eine wöchentliche psychiatrische Akutsprechstunde für Migrantinnen und Migranten an, welche hoch frequentiert in Anspruch genommen wurde und sich sehr rasch zu einer sogenannten Sozialpsychiatrischen Migrationsambulanz auswuchs. Diese habe ich mittlerweile in Zusammenarbeit mit dem Team Migrantenmedizin des Missionsärztlichen Instituts in Würzburg meiner eigenen Gutachtenpraxis angegliedert. Ganz offensichtlich leiden sehr viele Geflüchtete psychisch unter den Auswirkungen ihrer Fluchtursachen, ihrer Fluchtrouten und den oft verbesserungsbedürftigen Unterbringungsbedingungen im Zielland. Darüber hinaus sah ich den großen Bedarf an psychiatrischer Versorgung und Begutachtung von Migranten, somit die Notwendigkeit der ärztlich kurativen und empathischen Hinwendung zum Einzelfall. Statistische Daten, Zahlen und Fakten verstellen oft das Ausmaß des psychischen Leidens der einzelnen Betroffenen. Daher beschloss ich, über Einzelschicksale von Geflüchteten, ihre Traumatisierungen sowie ihre Probleme im Asylrechtsverfahren zu schreiben und die Öffentlichkeit verstärkt auf diese vielen ungelösten Probleme in Buchform hinzuweisen.

POW: Wie würden Sie das aus Ihrer Sicht einschätzen: Gibt es mehr körperlich oder mehr psychisch kranke Geflüchtete?

Flesch: Unter den Geflüchteten kommen natürlich die gleichen körperlichen Erkrankungen vor wie bei allen anderen Betroffenen auch. Jedoch sind die Störungen des Erlebens und Verhaltens bei psychischen Erkrankungen von Geflüchteten in ihrem Erscheinungsbild komplexer als bei körperlichen Symptomen und in ihrer Ausgestaltung variabel. Der Anteil von psychischen Störungsbildern bei Migranten und Migrantinnen ist unverändert hoch und meines Erachtens auch zunehmend. Die Ursachen für die Auslöser von erheblichen Traumatisierungen und psychischen Störungsbildern im Rahmen des Migrationsprozesses sind auf vielen Ebenen zu suchen, begonnen bei den oft unerträglichen Ausgangssituationen im Herkunftsland wie Unterernährung, politische Konfliktfelder, Verfolgung, Folter, Lagerhaft und so weiter über die unwägbaren Bedingungen eines Fluchtweges. Dazu gehören Hitze, Kälte, Obdachlosigkeit, Überquerung von Gewässern und damit die Gefahr des Ertrinkungstodes. Das Spektrum reicht bis hin zu den in der Regel wenig empfangend wirkenden Aufnahmebedingungen im Zielland. Als Stichwörter seien hier die Unterkunft, Asylrechtsverfahren und eventuelle Ablehnung, Duldung oder die Ankündigung der Abschiebung genannt. In diesem Zusammenhang präsentieren sich zahlreiche Quellen für posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Belastungsreaktionen und suizidale Entwicklungen.

POW: Würzburg wurde am 25. Juni durch die Gewalttat eines psychisch kranken Geflüchteten erschüttert, bei der drei Menschen starben und viele verletzt wurden. Wie beurteilen Sie aus fachlicher Sicht das Geschehen?

Flesch: Zunächst einmal muss im Rahmen eines gutachterlichen Prozesses geklärt werden, ob der am 25. Juni in Würzburg handelnde Täter unter einer klinisch manifesten psychischen Erkrankung gelitten hat, bevor in einem zweiten gutachterlichen Schritt geklärt werden kann, ob er im Rahmen seiner Tathandlungen auch unter der Einwirkung seiner möglichen psychischen Störungsbilder gestanden hat. Dennoch kann bereits zum jetzigen Zeitpunkt sicherlich argumentiert werden, dass wir uns um psychisch schwer erkrankte Geflüchtete rechtzeitig unter Bemühung der einzelnen erforderlichen ärztlich-kurativen und psychosozialen Ebenen kümmern und sorgen müssen. Psychisch erheblich beeinträchtigte Migranten bedürfen rechtzeitig einer adäquaten stationär-psychiatrischen Versorgung, die nicht damit enden kann, dass wir die Betroffenen nach einer Phase der stationären Behandlung sich selbst überlassen, möglicherweise auch unter der Gefahr, dass sie in die Obdachlosigkeit abgleiten. Hier bedarf es einer engen Verzahnung sämtlicher dafür erforderlicher kooperierender Ebenen und behördlicher Strukturen. Nur auf diese Weise können wir mittel- bis langfristig rückfallpräventiv tätig werden. Auch in diesem Zusammenhang wird sich entscheidend auswirken, inwieweit wir die Bereitschaft aufbringen, uns dem jeweiligen Einzelfall engagiert und intensiv zuzuwenden.

POW: Was muss geschehen, um die von Ihnen im Buch beschriebenen Nöte von Geflüchteten zu lindern oder gar zu beseitigen?

Flesch: In erster Linie muss es darum gehen, die Probleme der Geflüchteten anzuerkennen und nicht durch hochakademische und von statistischen Kennwerten gespeiste Argumentationen wegzudiskutieren. Nur die empathische Hinwendung zum Einzelfall führt hier zum Ziel, das kann oft anstrengend sein und viel Energie abfordern. Traumatisierte Geflüchtete bedürfen sehr hoher anhaltender Zuwendung. Oft sind die Unterbringungsbedingungen in Asylaufnahmeeinrichtungen suboptimal und führen zur Verstärkung des psychischen Leidens. Im Rahmen von Asylrechtsverfahren wird den Betroffenen häufig nicht ausreichend zugehört, oder sie werden lediglich an ihrer sogenannten Glaubwürdigkeit gemessen. Die durch die psychischen Störungen bedingten Einschränkungen werden häufig nicht in dem notwendigen Maße anerkannt. Es gibt noch viel zu tun und an Akzeptanz zu gewinnen. Darauf macht das Buch insbesondere aufmerksam.

POW: Welche Rolle kann oder muss die Kirche dabei spielen?

Flesch: Die Kirche muss – wenn sie glaubwürdig wahr- und ernstgenommen werden will – bei dieser Thematik eine klare und ganz eindeutige „Farbe“ bekennen. Eine Farbe, die als solche zu erkennen ist, eben kein „Grau in Grau“ und kein Mischzustand: klare und eindeutige Bekenntnisse zu den Problemen von Geflüchteten, insbesondere zu den Verletzungen von Menschenrechten im Rahmen der Migrationspolitik. Dazu gehört auch die mutige Durchsetzung von Kirchenasylen, wenn Alternativen versagen. Die Kirche ist da aber derzeit sehr still, wenig mutig und nimmt viel zu wenig Einfluss auf die gesellschaftlichen Strukturen und auf die realen Probleme von Geflüchteten. Ich wünsche mir diesbezüglich eine laute, eindeutig vernehmbare Stimme, damit aus stummen Schreien Protestschreie und Aufschreie werden, wo Bedürftige der empathischen Zuwendung ausharren.

Martin Flesch: „Stumme Schreie. Seelische Leiden durch Migration. Plädoyer eines Psychiaters“. 192 Seiten, 16,90 Euro. Echter Verlag, Würzburg 2021, ISBN 978-3-429-05663-6.

Interview: Markus Hauck (POW)

(3921/0940; E-Mail voraus)

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